Wenn die Fußballexperten der Region über die SG GW Hagenberg sprechen, dann fallen Namen wie Grzegorz Podolczak, Alexander Stehl, Lami Kosova oder auch Oliver Gräbel und Jan Steiger, die allesamt in der Region einen schon recht bedeutenden Klang besitzen. Nicht so oft genannt, doch mit seinen Leistungen beachtlich am Aufschwung der Hagenberger beteiligt, ist Hagenbergs Neuzugang Özgür Bilge. Der mit Abstand älteste Spieler des Gräbel-Teams hat eine sehr interessante Vita vorzuweisen, war einst in der Türkei Berufsfußballer.

Özgür spielt beim aktuellen Tabellenzweiten der Kreisliga meist auf der Sechser-Position. Dort sorgt er, gemeinsam mit Neuzugang Alessandro Majer, dafür, dass gegnerische Angriffe gestoppt und eigene gefährlich inszeniert werden. Das macht er so gut, dass die Fußballkenner der Region mit der Zunge schnalzen. Kennt man jedoch den Werdegang des 36-jährigen Türken, der mit einer deutschen Lehrerin verheiratet ist, dann erklären sich seine Leistungen ganz logisch. Vor zwei Jahren kam Özgür nach Deutschland. Ein Jahr zuvor lernte er in Istanbul seine Frau Ines kennen, die an einer Privatschule lehrte, für die der Grafik-Designer ebenfalls arbeitete. Als Ines 2011 nach Deutschland zurückkehrte, fragte sie ihren Özgür, ob er sich vorstellen könnte, sie zu begleiten. Er stimmte zu, lernte Ines´ Familie in Bad Homburg bei einem Zwei-Wochen-Urlaub kennen und lieben und zog zehn Monate später zu Ines, die inzwischen eine Lehrerjob an der Martin-Luther-King-Schule in Göttingen angetreten hatte. Das war vor genau zwei Jahren. Ein Kollege seiner Frau überredete ihn später zu einer Trainingseinheit beim TSV Klein Lenden, wo es ihm so gut gefiel, dass er regelmäßig für das Team in der 2. Kreisklasse kicken wollte. Schon damals war auch Trainer Oliver Gräbel über den gemeinsamen Freund Murat Bayri auf den selbständigen Fotografen und Mediengestalter und dessen fußballerische Klasse aufmerksam geworden. Doch da er Trainer Sebastian Oys in Klein Lengden schon sein Wort gegeben hatte, gelang es Gräbel nicht, Bilge für sein damaliges Bezirksliga-Team beim SC Hainberg zu gewinnen. Als Gräbel zu Beginn der Saison die Aufgabe bei der SG GW Hagenberg übernahm, wechselte auch Özgür zum grün-weißen Team.
In der Türkei gehörte Özgür viele Jahre lang jener Elite von Fußballern an, die es geschafft hatten, mit dem Sport ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Schon als kleiner Junge bolzte er stundenlang auf den Straßen Istanbuls, oft klagte seine Mutter über seine zerschundenen Schuhe. Mit 10 Jahren schloss er sich dem Verein G.O.Pasa an, wo er alle Altersklassen des Nachwuchsfußballs durchlief und mehrfach die Türkische Meisterschaft gewann. Mit 18 Jahren rückte er in den Kader der ersten Mannschaft des Vereins, die damals in der zweiten Türkischen Liga spielte. Zwei schöne Jahr verbrachte er hier. Nach dem Abstieg aus der zweiten Liga wechselte er zum Verein Karadeniz in die vierte Türkische Liga und wurde prompt Meister. Aber Özgür zog weiter, schloss sich Yeniköyspor an, ebenfalls in der vierten Liga. Auch hier wurde er auf Anhieb Meister. Zweimal gelang ihm das Kunststück Meisterschaft auch beim Verein HRP, wo er von 2002 bis 2005 spielte. Bevor Özgür 2008 seine Karriere beendete, spielte er noch für die Vereine HürriyetGücü und SiSli. Am Ende seiner Profi-Karriere in der Türkei war Özgür etwas enttäuscht darüber, dass von den Vereinsfunktionären viele, anfangs gegebene Versprechungen später nicht eingehalten wurden. Zum Glück hatte er aber mit 18 Jahren seine Ausbildung abgeschlossen und konnte so problemlos den Absprung vom Berufsfußball schaffen. Leider, so blickt Özgür, der sich als großer Anhänger von Fenerbahçe outet, zurück, fehlt den jungen, oft sehr talentierten türkischen Spielern die für den Profifußball nötige Beratung. So ging er als junger Profi praktisch ohne die erforderliche Konzentration auf den Fußball durchs Leben. Ansonsten hätte er, seiner Einschätzung nach, auch ganz oben anklopfen können. Bei einem Probetraining bei Fenerbahçe – unter dem ehemaligen Bundesliga-Spieler Ender Konca als Trainer – wäre der Sprung fast gelungen. Aber die Vereine konnten sich über die Höhe der Ablöse nicht einigen. Dennoch blickt Özgür auf seine Zeit als Profi in der Türkei mit Stolz zurück. Er spielte unter großen Trainern, wie beispielsweise Cevat Güler, der später als Trainer mit Galatasaray Meister wurde, oder dem späteren Türkischen Nationaltrainer Abdulah Gegic. Zwei gravierende Unterschiede hat Özgür im Vergleich der beiden Fußballnationen ausgemacht: Wenn in Deutschland ein Spiel verloren geht, stellt das kein großes Problem dar, niemand verfällt hier in Aktionismus. In der Türkei hingegen führe eine einzige Niederlage in der Regel zu solch heftigen Diskussionen, dass die gesamte vorherige Arbeit sofort in Frage gestellt wird. Außerdem seien in der Türkei die Bedingungen für den Nachwuchs katastrophal, sowohl für das Training als auch im mentalen Bereich.
Bei seinem neuen Verein, SG GW Hagenberg, spielt der werdende Vater – im Januar wird es soweit sein – bei seinem Trainer Oliver Gräbel eine wichtige Rolle in der Zentrale des Kreisliga-Favoriten. Mit seinem feinen linken Fuß kann er auch heute noch punktgenaue Pässe schlagen. „Den rechten Fuß brauche ich nur, um nicht umzufallen!“, scherzt Özgür in hervorragendem Deutsch, das er sich in nur zwei Jahren aneignete. Außerdem ist Özgür sehr schwer vom Ball zu trennen. Die Zweikampfstärke war ein wichtiger Pfand seiner Karriere. Das sieht man auch heute noch. Er findet in fast jeder Situation auf dem Feld eine Lösung und setzt seine Mitspieler aussichtsreich in Szene. Außerdem ist Özgür ein echter Freistoß-Spezialist, mit einer Mauer davor sei er treffsicherer als vom Elfmeterpunkt. „Wenn wir wirklich ernsthaft spielen, dann haben es unsere Gegner in der Kreisliga ganz schwer!“, schätzt er die Chancen in der für ihn neuen Spielklasse ein. Außerdem glaubt er an die Stärke des Hagenberger Kaders. „Es gibt nur wenige Verteidiger, die Poldi halten können.“, lobt er seinen Sturmführer Grzegorz Podolczak. Im gleichen Atemzug nennt er Kapitän Marian Baciulis und Alexander Stehl, der aber sein Potenzial in den Augen des Ex-Profis noch nicht voll ausschöpft. Obwohl Özgür in seiner Karriere viele große Trainer kennen lernte, hat er dennoch lobende Worte für sein neues Trainerduo Oliver Gräbel und Kevin Kahl übrig. Das Training bereite sehr viel Spaß, die Trainer finden die richtige Mischung zwischen Lockerheit und ernsthafter Arbeit. Die Entscheidung, auf den Hagenberg zu wechseln, hat er bisher nicht bereut. Er fühle sich im Team sehr wohl und gut aufgenommen. Seine neuen Kameraden haben auch sofort einen neuen Spitznamen für den 1,80 Meter großen Neuzugang gefunden: „Opa“ wird er aufgrund seines den Hagenberger Durchschnitt weit überschreitenden Alters gerufen. Er kann damit leben, weiß, dass seine Mitspieler das nicht despektierlich meinen. Göttingen ist für Özgür eine neuen Heimat geworden. Er hat sich als selbständiger Mediengestalter und Fotograf niedergelassen. Hier bietet er seine Dienstleistungen in Mediengestaltung, Druck, Fotografie und Webdesign an. Vielleicht kann er dann im Juni 2015 per Selbstauslöser sogar das Meisterfoto für seine Hagenberger schießen. Den dafür nötigen Willen besitzt Özgür: „Ich kann nicht verlieren. In jedem Spiel will ich unbedingt gewinnen. Gelingt das nicht, bin ich sehr traurig.“.
Die Fotos der Bildergalerie sind Auszüge aus der Profi-Karriere von Özgür und aktuelle Bilder von der Fortsetzung als Amateurfußballer in Göttingen.